Gedichte können viele Formen haben; als komplexe, von genauen Regeln definierte Gebilde, als dramatische Balladen, die inhaltliche Spannung mit drängendem Versrhythmus verbinden, als sprachmusikalische Texte, deren Einheit von Bild und Gefühl aus Stimmung Gedanken bildet und aus Gedanken den Moment einer gelungenen Welt: »Füllest wieder Busch und Thal / Still mit Nebelglanz ...«
Gedichte spielen als revolutionärer Gesang auf Bühnen oder sie wohnen sehr leise in der Seele als Nachklang einer fast vergessenen Liebe (Brechts »Erinnerung an die Marie A.«). Was sie aber stets, trotz ihrer formalen Vielfalt eint, ist ihr ganz eigener Anspruch auf Intensität. Man darf sagen: ihr unbedingtes Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit.
Gedichte können nicht lügen; ein falscher Ton zerstört sofort und unwiderruflich ihre Gegenwart. Was nicht bedeutet, dass ihre Versprechen ewig halten müssen - davon erzählt ja die Erinnerung an Marie A. Doch in dem Augenblick, in dem sie da sind, sind sie nichts als der unwiderlegliche Beweis ihrer Existenz. Und so der Existenz derer, die sie zur Sprache bringen - ihrer Autoren, aber ebenso des Menschen, der sich in ihrer Präsenz noch einmal entdeckt.
Soviel als Fürsprache für ein knappes halbes Hundert von Texten, die eben Gedichte, also wahrhaftige Existenzzeichen sein möchten. Knapp, reimlos, in freier Rede, unmittelbar bei der Sache - und doch ein wenig über sie hinaus: bei den Fragen, die da sind, immer, wenn wir uns selber begegnen. Und nicht zufällig steht am Anfang dieser Sammlung eine Beobachtung, die ein altes Jahr beendet und ein neues beginnt:
»Schnee / fällt auf die Spur / einer Katze / die ich gestern betrachtet / beim Deuten des / Krähenflugs«