Kafkas Ausdruck seines Seelenlebens
Wie kaum ein anderes Stück Literatur hat 'Die Verwandlung' die Leser zugleich begeistert und verstört und zu verschiedensten Deutungen des vielschichtigen Textes angeregt. Kafkas Erzählung unterläuft und übertrifft jedoch jegliche Interpretationsschemata und ist über alle verkürzenden Zugänge zum Text erhaben.
Die Metamorphose des Prokuristen Gregor Samsa zum Käfer wurde von Kafka selbst nicht als beängstigendes Geschehen entworfen. In einem Gespräch mit Gustav Janouch antwortete er angeblich auf dessen Vergleich mit der Devise »Zurück zur Natur«: »Doch heute geht man weiter. Man sagt es nicht nur - man tut es. Man kehrt zum Tier zurück. Das ist viel einfacher als das menschliche Dasein.«
In lapidarem Ton teilt der erste Satz der Erzählung das Ungeheuerliche
mit: Gregor Samsa, ein gehetzter, die väterlichen Schulden abdienender
Handlungsreisender, stellt nach dem Erwachen fest, dass er sich über Nacht
in ein monströses Insekt verwandelt hat. Groteskerweise scheint dies Samsa
- der Gleichklang zu >>Kafka<< ist beabsichtigt - nicht zu erschrecken;
die Metamorphose wird als gegeben hingenommen. In Panik versetzt Samsa
vielmehr, dass er den Dienst verschlafen hat, somit die Pflichten gegenüber
den Eltern vernachlässigt und dieses >>Vergehen<< von seinem Chef geahndet
werden wird. Von Schuldgefühlen geplagt, tritt Samsa vor seine Familie
und den anwesenden Prokuristen, die der Anblick in Panik versetzt. Mitgefühl
zeigt die Familie indessen keins: Der Vater treibt den Sohn brutal in sein
Zimmer; später verwundet er ihn schwer. Die Mutter fügt sich in den Willen
ihres autoritären Gatten. Die anfängliche Sorge der Schwester um den Bruder
kehrt sich bald in Ekel. Abgeschnitten von aller Anteilnahme, vereinsamt
und verwahrlost Samsa zusehends. Als er erfährt, dass der Vater heimlich
ein kleines Vermögen horten konnte, leugnet er, dass seine Opferbereitschaft
für die Familie, die sich rasch an die neue Lage gewöhnt, unnötig gewesen
war. Wie ein >>Tier<< haben Familie und Firma Samsa jahrelang ausgebeutet;
der Sohn ließ dies mit sich geschehen, um die eigene Existenz rechtfertigen
zu können. Die >>Verwandlung<< ist folglich nur das konsequente Ende eines
lange währenden Prozesses willig ertragener, permanenter Ausbeutung. Samsa
revoltiert nicht gegen dieses Schicksal; er hat die Normen der Sklavenmoral
vollständig verinnerlicht und beginnt sich als nutzlosen Parasiten zu betrachten:
Pflichtbewusst bis in den Tod, will er der Familie nicht zur Last zu fallen,
hungert sich zu Tode und wird wie Abfall entsorgt.